Claus-Jürgen Göpfert:
Wanda Pratschke „Ich traue mich alles“

Die 78-jährige Bildhauerin hat ihre künstlerische Unabhängigkeit bewahrt. Am Wochenende öffnet sie ihr Atelier.
Die Bildhauerin zwischen ihren Skulpturen im Atelier. Fotograf: peter-juelich.com

Noch einmal knickt der weiß gekalkte Gang nach rechts ab. Angenehm kühl ist es hier, angesichts der schwülen Hitze draußen. Um die Ecke dringt schon der Klang von Schlägen. Ein Hammer? Tock tock, tock tock tock. Es riecht intensiv nach Mörtel und Farbe. Ein paar Schritte noch, dann öffnet sich das sonnenlichtdurchflutete Atelier für den Besucher. Skulpturen überall, kleine, große. Mittendrin im Durcheinander hockt Wanda Pratschke, schwarzes T-Shirt, schlohweißes Haar, eine markante schwarzrandige Brille auf der Nase. Sie hält ein kleines Beil in der Hand. Sie lacht.

Ein Atelierbesuch bei der Bildhauerin an der Ostparkstraße: Der wirkt jedes Mal wie eine erfrischende Dusche. Pratschke ist unverblümt, direkt, herzlich, eben eine typische Berlinerin – die aber schon seit 1961 in Frankfurt lebt. Sie ist durch ihre Plastiken von großen, selbstbewussten, runden Frauen bekannt geworden. Frauen, an denen niemand vorbeikommt. Mitten im Raum thront ihr jüngstes überdimensionales Werk. „Große Frau – ein Fels“ ist der zutreffende Arbeitstitel. Am 18. Januar hat sie mit der Skulptur begonnen, jetzt legt sie letzte Hand an.

„Ich wollte nicht immer so kleine Plastiken machen, sondern mal ein paar Brocken“, sagt sie mit ironischem Unterton. Am Ende wird aus dem Gipsmodell, das sie unter anderem mit dem Beil gehauen hat, eine Bronze gegossen. Der Bildhauerin fällt auf, dass sie noch immer das Beil in der Hand hält. Sie lacht und legt es weg.

Die große Skulptur, sagt die Künstlerin eher beiläufig, verkörpere „meine innere Haltung: aufrecht und nicht gebückt.“ So hat die heute 78-Jährige sich durchs Leben geschlagen. Geboren ist sie im Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg ausbrach, als Enkelin eines Schmieds. Als kleines Kind spielte sie in Moabit, ganz in der Nähe fuhren die Züge ab, mit denen vor allem Juden in die Todeslager im Osten verschleppt wurden. Bald wurde Wanda mit ihren drei Geschwistern zum Großvater in ein Dorf nach Schlesien gebracht, während die Bombenangriffe auf Berlin immer schlimmer wurden. Im vergangenen Jahr hat sich Pratschke in Schlesien auf die Suche nach den Spuren ihrer Kindheit begeben. „Ich dachte, ich müsste das in meinem Leben noch machen.“

Bald stand sie in der Kirche, in der sie mit der Familie 1944 Weihnachten gefeiert hatte, während über die Köpfe der Gemeinde hinweg Ströme von Bombern in Richtung Berlin flogen. In dieser Zeit begann die Fünfjährige auch, mit Knetmasse zu modellieren: „Ich baute kleine Häuser aus Lehm.“ Fasziniert sah sie in der Werkstatt zu, wie der Großvater mit dem Hammer das glühende Eisen verformte.

Für das kleine Mädchen war die Zeit unmittelbar nach Kriegsende doppelt schlimm. Nicht nur, dass die Mutter und die vier Kinder in ein schrecklich zerstörtes Berlin zurückkehrten. In dem viele Menschen in den Trümmern hungerten. Bilder, die sie nie wieder vergessen kann. Bald darauf verschwand der Vater und ließ den Rest der Familie alleine. „Er hat sich verdrückt“, sagt die Künstlerin. Sie hat sich einen Apfel gegriffen und beißt kräftig hinein. Wanda lernte früh, Verantwortung zu tragen, im täglichen Überlebenskampf im Nachkriegs-Berlin. Mit 18 Jahren begann sie dort an der Meisterschule für das Kunsthandwerk zu studieren, sie widmete sich vor allem der Ausbildung für das Bühnenbild. 1961 zog die Mutter mit den Kindern nach Frankfurt am Main um. Die Städtischen Bühnen hatten damals mit Generalintendant Harry Buckwitz an der Spitze einen großen künstlerischen Ruf. Buckwitz spielte die Stücke von Bertolt Brecht, die den Konservativen in der jungen Bundesrepublik als Ausbund des Kommunismus galten. Hier dockte Pratschke an, wurde Assistentin des Regisseurs Franz Mertz. „Die Zeit beim Schauspiel war eine sehr wichtige Erfahrung“, sagt sie heute; „ich lernte, konzeptionell zu denken.

Von 1961 bis 1963 entwarf sie Bühnenbilder für wichtige Inszenierungen. Doch dann lernte sie einen Mann kennen, den sie liebte, gebar zwei Kinder, verzichtete auf ihre künstlerischen Ambitionen, war nur noch Hausfrau und Mutter. Die Bildhauerin geht sehr offen mit den Niederlagen in ihrem Leben um. Die Ehe scheiterte. Und Mitte der 70er Jahre wagte sie einen künstlerischen Neuanfang. „Ich besann mich auf mein Talent für das Haptische, das Räumliche.“ Sie begann, an der Städelschule in Frankfurt zu studieren, Malerei und Bildhauerei, obwohl sie zwei Generationen älter war als ihre Kommilitonen. Doch sie eckte an, wollte sich nicht einfügen, wurde exmatrikuliert. „Wenn ich da weitergemacht hätte, wäre ich sehr akademisch geworden“, sagt sie offen. Das wollte sie nicht. Pratschke ließ sich nicht irritieren. Viele Skulpturen entstanden in dieser Zeit. Der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann (SPD) lernte sie kennen und unterstützte sie.

1981 kam endlich die Anerkennung

Immer wieder bewarb sie sich, und 1981 kam endlich die Anerkennung: Sie gewann den ersten Preis im Wettbewerb für die Gestaltung der Sandhofpassage. Es war ein Durchbruch. Beim Künstlerfürsten Markus Lüpertz und beim Happening-Künstler Wolf Vostell lernte sie in diesen Jahren. 1990 fasste sie ihren ganzen Mut zusammen und gründete ihr eigenes Atelier. Dazu gehörte Courage. Denn die Wahrheit ist: Nur die allerwenigsten der bildenden Künstler in Deutschland können von ihrer Arbeit leben. Pratschke, die einfach eine alleinstehende Mutter war mit zwei Kindern, kämpfte und gewann.

„Man muss immer überlegen, wo und wie man Geld beschaffen kann“, sagt die Bildhauerin. Akquirieren ist das Zauberwort, ein Netz aufbauen, ein Beziehungsgeflecht: Heute ist die Künstlerin weit über das Rhein-Main-Gebiet hinaus bekannt, sie stellt in Berlin ebenso aus wie in Hofheim am Taunus. Wer mit offenen Augen durch Frankfurt und die Region geht, stößt überall auf Pratschkes Skulpturen: „Die Schöne“ im Terminal 1 des Rhein-Main-Flughafens, die „Liegende“ in Hofheim, die „Vier Frauen“ vor der Hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden, die „große Stehende“ in den Wallanlagen in Frankfurt. Heute gibt es längst reiche Sammler, die auf ihre Arbeiten erpicht sind, das Internet spielt bei der Vermarktung eine große Rolle. „Sie müssen einfach Mut haben“, sagt sie schlicht.

Wir gehen aus dem Atelier am Ostpark nach draußen, in einen schönen Spätsommertag. Hinter den Räumen stehen Tische mit Gartenstühlen unter alten Bäumen, ein kleines Idyll. Woher kommt der Mut? Pratschke wägt ihre Worte sorgfältig, nach einer Pause. „Der Mut kommt aus der Zeit des Krieges und des Nachkrieges, aus dem Überlebenskampf“, sagt sie dann. Als alleinstehende Frau hat sie gelernt, ihre Bedürfnisse auf das wirklich Notwendige zu beschränken. „Ich selbst brauche nicht viel zum Leben.“ Ein kleines Auto gehört dazu, um beweglich zu bleiben, auch mit 78 Jahren.

Eine kleine Wohnung. Und natürlich das Atelier, das ist unabdingbar. Sie hofft, dass sie weiter in den städtischen Räumen an der Ostparkstraße bleiben kann, unter einem Dach mit dem mehr als 90 Jahre alten Maler Max Weinberg und anderen Künstlern. „Das ist doch Luxus hier, ich habe sogar eine Hängematte, wenn ich schlafen will.“

Wir gehen zurück zur „Großen Frau“. Bald muss die riesige Gipsform auf den Weg gebracht werden zur Metallgießerei in Mainz- Kastel, mit der sie jetzt schon lange zusammenarbeitet. Wanda Pratschke ist stolz darauf, was sie erreicht hat. Sie hat alleine ihre zwei Töchter großgezogen. Die eine ist Architektin geworden und nach Brasilien ausgewandert. Die andere arbeitet als Filmemacherin.

Was hat sie ihnen mitgegeben für das Leben? „Unabhängigkeit ist das Wichtigste“, sagt die Künstlerin. Sie wirkt nicht wie 78 Jahre alt, bewegt sich recht leichtfüßig zwischen all ihren Frauen im Atelier. Die Zahl der Bildhauerinnen in Deutschland ist nicht so groß, sie besitzt „nicht viel Konkurrenz.“

Mittlerweile finden selbst Politiker den Weg in ihr Atelier, die sich mit ihr und ihren Arbeiten schmücken wollen, auch Politiker der CDU übrigens.

Es ist Zeit, weiterzuarbeiten. Die Bildhauerin packt wieder ihr kleines Beil. Sie versucht, auch körperlich bei Kräften zu bleiben, trainiert zweimal die Woche im Fitness-Studio. Das Entscheidende aber spielt sich in ihrem Kopf ab. Sie hat keine Angst mehr. „Ich traue mich alles“, sagt sie.

Original-Artikel aus der Frankfurter Rundschau, August 2017 (pdf-Download)